Erst danach wurden vom Grundbesitzer des Rittergutes die heute bebauten Grundstücke verkauft und so siedelten sich hier immer mehr Menschen an. Später, nachdem die Straße gepflastert worden war, erhielt sie den Namen „Seilerstraße“.
Zu den Hauptkunden damals zählten die Bauindustrie, auch die Schifffahrt, aber ganz besonders die Landwirtschaft und wurden hier die Garbenbänder das Hauptprodukt. Der Bedarf wuchs und so musste der Betrieb erweitert werden. Es wurde vom Rittergut ein großes Grundstück erworben und darauf zwei Seilbahnen errichtet. Die erste Seilbahn, die so genannte „Spinnbahn“ wurde 1896 errichtet. Die Größe des Grundstückes erlaubte eine Bahnlänge von 130 Meter, von denen nach dem Bau der „Spinnbahn“ ab 1896 dann gut 50 Meter überdacht waren. Diese Seilbahn entstand aus den Bohlen eines auf der Rogätzer Schiffswerft abgewrackten Elbkahnes. Daneben baute man dann später eine zweite Seilbahn auf, die der Produktion der Garbenbänder diente. Hier wurde oben an der Straße, wo heute das Wohnhaus steht, ein großer massiver Maschinenraum gebaut und am Ende der Seilbahn ein großer Holzschuppen, in dem die Nachfolgeeinrichtung installiert wurde. So konnten mit jedem Arbeitsgang 24 Schnüre von 100 m Länge geschnürt werden. Diese wurden auf passende Längen geschnitten, gefärbt und dann in Heim- und Kinderarbeit mit Knoten und Holzklotz versehen. Damals gab es kaum ein Kind in Rogätz, das nicht bei Hille’s Garbenbänder geknotet hatte.
Der Begründer der Seilerei, Carl Hille, hatte fünf Kinder. Davon übernahm der älteste Sohn, Louis Hille, von seinem Vater den Betrieb und führte ihn bis zum Tode. Die Tochter von Carl Hille und älteste Schwester von Louis, Johanne, heiratete den Malermeister Wilhelm Steffens. Da Louis Hille keinen männlichen Erben hatte und ein potenzieller Nachfolger fehlte, bat er seinen Neffen Bruno Steffens, einem gelernten Bankkaufmann, dessen Bank jedoch nach dem Ersten Weltkrieg die Inflation nicht überlebt hatte, den Seiler-Beruf zu ergreifen, um später den Betrieb einmal zu übernehmen. So wurde 1934, nach dem Tod von Louis Hille, der Betrieb von Bruno Steffens von den Erben käuflich erworben und die Familientradition fortgesetzt.
Schnell änderten sich in den dreißiger Jahren die Strukturen. Garbenbänder wurden bald nicht mehr gebraucht, denn die Landwirtschaft mechanisierte sich immer stärker und so wurde die Handarbeit des Getreidebindens durch Mähbinder ersetzt. Bindegarn wurde das Haupt-Handelsprodukt und es wurden jährlich die Ladung von bis zu drei Eisenbahnwaggons an die Landwirtschaft verkauft.
Als der Betrieb, nach einigen Schwierigkeiten bei der Übernahme 1934, wieder in „ruhiges Fahrwasser“ gekommen war, begannen erneut schwierigere Zeiten durch den Beginn des Zweiten Weltkrieges. Der damalige Inhaber Bruno Steffens wurde gleich vom ersten Tage an, am 1. September 1939, zur Armee eingezogen. und die Produktion vorübergehend eingestellt.
Die Zeit nach dem Krieg wurde für den Betrieb fast noch schwieriger, denn Bruno Steffens musste eine fast dreijährige Internierungshaft über sich ergehen lassen. So hatte die Seilerei unter den veränderten politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen, nach der jahrelangen Unterbrechung, wieder einen erschwerten Start. Lange lebte man dann später mit der Befürchtung, ein ähnliches Schicksal zu erfahren, wie z.B. bei der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Erst relativ spät merkte man, dass die DDR-Regierung eine Verstaatlichung des Handwerks vom „Tisch geschoben“ hatte, weil sie Schwierigkeiten bei der Versorgung Bevölkerung befürchtete. Diese verbesserte „Großwetterlage“ für das Handwerk machte sich in den Folgejahren dann auch deutlich bemerkbar.
Inzwischen hatte am 1. Januar 1960 von Bruno Steffens der Sohn Rolf Steffens den Betrieb übernommen, dem es gelang, den Betrieb weiter auszubauen und noch stärker zu mechanisieren. Dies war allerdings mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, denn freie Kapazitäten im Maschinenbau waren nur schwer zu bekommen. Flechtmaschinen wurden teilweise aus Polen eingeführt.
Dann kam die Wendezeit und so wurden die Jahre 1989 und 1990 erneut zu einer starken Belastung. Wieder musste sich der Betrieb total umorientieren und sich unter den veränderten Gegebenheiten einer großen Bewährungsprobe unterziehen. Zu DDR-Zeiten fast mit allem, was das Seilerhandwerk betraf, beschäftigt, von der Seilproduktion bis zum Konsumgüter-Bindfaden, war dies plötzlich alles nicht mehr gefragt. Der bisherige Kundenstamm war völlig weggebrochen und es mussten total neue Betätigungsfelder gesucht werden. So wurde das Unternehmen wieder stärker auf das Handelsgeschäft konzentriert, dem es sich in den dreißiger Jahren schon einmal verstärkt verschrieben hatte. Das Gebiet der Seiltechnik wurde jetzt auf die Hebe- und Anschlagtechnik, auf die Ladungssicherung und Schutz- und Sportnetze ausgedehnt.
Mit viel Engagement und verstärktem Einsatz bestand die Seilerei Steffens auch diese harte Zeit der Umprofilierung, weil vor allem auch Vater Rolf und Sohn Holm im wahrsten Sinne des Wortes „gemeinsam an einem Strang (Seil)“ zogen.
Am 1. Januar 2000 übernahm dann Holm Steffens die Leitung des Unternehmens. So blickt dieser kleine Handwerksbetrieb nicht ohne Stolz derzeit in 5. Generation auf eine über 130-jährige Geschichte in Familienbesitz zurück und hat neben sehr harten Zeiten, auch recht erfolgreiche Jahre erlebt.
Aufgeschrieben von Rolf Steffens (09.11.1932 - † 11.10.2016)
Anmerkung: Am 11.10.2016 ist unser langjähriger Senior-Chef Rolf Steffens unerwartet verstorben. Wir trauern um ihn.
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